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21.03.2023Porträt

Livia Gross: «Ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt»

Livia Gross gehört zu jener Sorte Spielerinnen, die nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, für das Team aber ausgesprochen wichtig sind. Dass sie mit Aergera auch im Playoff-Final nicht im Schweinwerferlicht stehen wird, stört die 28-Jährige nicht. Im Gegenteil.

«Ich weiss nicht so recht», antwortete Livia Gross spontan auf die Interviewanfrage der FN. «Das kommt ja dann in die Zeitung, und ich stehe nicht so gerne im Mittelpunkt.» Nach etwas Überzeugungsarbeit und einer Nacht darüber schlafen willigt die 28-Jährige schliesslich doch ein.

Die Giffersnerin bleibt lieber im Hintergrund, auch im Unihockey – unscheinbar ist sie deswegen überhaupt nicht. Wenn ihr Team Aergera Giffers in der NLB für Furore sorgt, dann gehören die Schlagzeilen anderen. Dann wird der Torinstinkt von Alyssa Buri bewundert, die wichtige Rolle der routinierten Captain Lea Bertolotti hervorgehoben oder das aussergewöhnlich junge Goalie-Duo Noëmi Jöhr/Vanessa Aebischer mit berechtigten Lorbeeren überschüttet. Die Leistungen von Livia Gross gehen mehrheitlich unter dem Radar durch. «Dabei ist Livia extrem wichtig für unser Team», ist Trainer Richard Kaeser voll des Lobes für seine Verteidigerin. «Sie ist unser ruhender Pol, sie spielt beinahe fehlerfrei und das konstant während der ganzen Saison.»

Leistung, Clubtreue und Erfahrung

Livia Gross mag ihren Teamkolleginnen das Scheinwerferlicht gönnen. Nicht nur, weil sie sich daneben unbemerkt im Hintergrund bewegen kann, sondern weil sie als Vize-Captain einen guten Draht zu all ihren Mitspielerinnen hat. «Das Schöne bei Aergera ist, dass wir wie eine grosse Familie sind. Jede spricht mit jeder, alle sind offen für die anderen», erklärt sie. Und mit einem Lachen fügt sie an: «25 Frauen auf einem Haufen, das stellen sich viele wohl ganz schlimm vor. Aber bei uns ist das überhaupt nicht so.»

Ihr Standing als Vize-Captain hat sich Gross über die letzten Jahre erarbeitet. Einerseits natürlich mit Leistung, anderseits auch mit ihrer Clubtreue und ihrer Erfahrung. Die 28-jährige Finanzbuchhalterin eines Freiburger Treuhandbüros ist die viertälteste Spielerin, seit 2015 läuft sie für Aergera Giffers auf. Nur Angela Kohler (2013) und Bertolotti (2014) sind noch länger dabei.

Spätstarterin

Als Livia Gross den Sprung von den U21-Juniorinnen ins damalige NLA-Team von Aergera schaffte, spielte sie erst seit drei Jahren Unihockey. Zuvor galt ihre Leidenschaft dem Badminton. In Tafers, wo sie aufgewachsen ist, trainierte sie jahrelang, ehe sie als 17-Jährige das Bedürfnis verspürte, etwas Neues auszuprobieren. «Eine ehemalige Nachbarin, die beim UHC Asta spielte, nahm mich zu einem Unihockey-Training mit», erzählt Gross. «Es hat mich sofort gepackt.» Die Stop-and-go-Bewegungen, die das Unihockey charakterisieren, ist die Senslerin bereits vom Badminton gewöhnt, auch ihr peripheres Sehen ist gut geschult und erleichtern ihr den Einstieg in die neue Sportart. «Ich habe ein gewisses polysportives Talent, wodurch ich mich rasch in neuen Sportarten zurechtfinde», sagt Gross fast entschuldigend.

Längst ist sie bei Aergera zur Leaderin gereift. Die grossen und lauten Worte bekommt man von der Verteidigerin mit der Trikotnummer 35 auf dem Feld nicht zu hören, das entspricht nicht ihrer Art. Sie tritt dennoch bestimmt und energisch auf, schlüpft gewissermassen aus ihrer Haut, und übernimmt auf den Platz die Führung und die Verantwortung. «Dank meiner Spielübersicht kann ich einen guten ersten Pass spielen», antwortet Gross auf die Frage nach ihrer Stärke. Und was muss sie noch verbessern? «Der Trainer sagt immer, ich solle mehr in die Zweikämpfe an der Bande gehen. Ich finde aber, dass ich den Gegnerinnen den Ball besser wegnehmen kann, wenn ich nicht so nahe dran bin und ihnen stattdessen den Ball vom Stock stibitze.»

Aergera Giffers im Wandel

In all den Jahren mit Aergera hat Livia Gross einiges erlebt. Sie hat nicht nur in der Saison 2019/20 beim Abstieg aus der NLA bittere Tränen vergossen, sie hat auch miterlebt, wie sich der Verein Schritt für Schritt weiterentwickelt hat. «Als ich angefangen habe, spielten noch sehr wenige Mädchen in Giffers Unihockey. Mittlerweile hat es sehr viele Juniorinnen, was sicherlich auch auf die Erfolge der ersten Mannschaft zurückzuführen ist», erklärt die Verteidigerin, die sich im Verein auch als Nachwuchstrainerin engagiert.

Entwickelt habe sich auch das Unihockey an sich. «Das Spiel ist athletischer und schneller geworden, stocktechnisch sind die Spielerinnen heute viel besser drauf. Und wenn wir heute an einen Match gehen, dann haben wir jeden Gegner vorher genaustens analysiert.» Diesbezüglich habe man mit Trainer Richard Kaeser nochmals einen Schritt vorwärtsmachen können. «Er kann uns Spielerinnen sehr gut lesen und weiss genau, was jede Einzelne braucht und wie er sie motivieren kann. Zudem hat er klare Strukturen geschaffen, jede Spielerin kennt ihre Aufgabe und weiss, was sie auf dem Feld zu tun hat.» Das sei ein wesentlicher Grund, weshalb man momentan so erfolgreich sei.

Final gegen überraschende Chilis

Die Giffersner Erfolgsgeschichte soll auch im Playoff-Final weitergehen. Da stehen am Wochenende die ersten beiden Partien der Best-of-5-Serie an. Etwas überraschend treffen die Senslerinnen dabei auf die Chilis Rümlang-Regensdorf, die im Halbfinal die Qualifikationssiegerinnen Appenzell in drei Spielen ausschalteten. Bereits im Viertelfinal hatten die Zürcherinnen mit Basel ein besser klassiertes Team aus der Qualifikation eliminiert. «Die Chilis sind sehr konterstark, wenn sie den Ball in der Mitte abfangen können, wird es gefährlich», sagt Livia Gross. «Wir müssen schauen, dass wir gut über die Mitte kommen und möglichst keine Fehlpässe machen. Jedes Spiel wird ein harter Kampf.»

«Noch nicht reif für den Aufstieg»

Die Siegerinnen der Finalserie können in einem nächsten Schritt gegen den NLA-Vertreter – entweder Wasa oder die Floorball Riders – um den Aufstieg in die höchste Schweizer Unihockeyliga kämpfen. Was, wenn sich Aergera plötzlich die Chance für den Schritt nach oben bieten würde? «Wir müssten untereinander diskutieren, ob alle bereit sind, den Trainingsmehraufwand, den es für die NLA braucht, zu leisten, um dann eine Liga höher die meisten Spiele zu verlieren», gibt Gross zu bedenken. Sie selbst wäre sofort bereit, den Mehraufwand zu leisten. Zugleich befürchtet sie aber, dass der Aufstieg diese Saison etwas zu früh käme. «Unser Nachwuchsteam U21B ist noch relativ jung, der Schritt in die NLB ist schon gross, in die NLA war er riesig. Da braucht es noch mehr Zeit, bevor ein Aufstieg in die höchste Liga Sinn macht.»

So oder so werden Livia Gross und Aergera im Playoff-Final nochmals alles aus sich herausholen. «NLB-Meister zu werden, das wäre ein Traum», sagt die Giffersnerin.

Bericht Michel Spicher, Freiburger Nachrichten vom 18. März 2023.